Eine Hand greift meinen Arm und eine ruhige selbstsichere Stimme sagt mir, dass hier noch ein Platz frei sei. Ich setze mich also in die Dunkelheit. Das Licht wird eingeschaltet. Der kleine weiß getünchte Raum, die wenigen unlängst vergebenen Sitzplätze und die vielen Menschen, die sich dahinter reihen um an der kommenden Aufführung teilzuhaben werden sichtbar.
Irgendwann kehrt Ruhe ein und die ersten beiden Personen treten aus dem Publikum vor das Publikum. Das bedeutet gleichsam, dass mein Nachbarsitz nun frei ist und die hilfreiche Stimme jetzt aus der anderen Richtung zu mir spricht. Sie gehört einem gut aussehenden jungen Mann. Mit Händen in den Taschen der legeren Hose richtet er seinen Blick auf die etwa gleichaltrige Frau neben ihm. Es ist still als sie beginnt zu sprechen. Unvermittelt befinden wir uns in der Beschreibung einer Familie, die zusammen im Bett liegt, der Schwester, die den begehrten Platz zwischen den anderen (und nicht am Rand) meist erfolgreich für sich beansprucht und einer von Neid begleiteten zurück blickenden Erkenntnis dessen. Oder ging es mehr um die etwas deprimierende Einsicht in der Vergangenheit nicht immer mit dem gewünschten Nachdruck agiert zu haben?
An sie herantretend, solchen Fragen Zeit und Raum gebend, greift der Mann nachdrücklich ihren Arm und beginnt zu sprechen von einer Szene, ebenfalls im Bett mit dem Vater und dessen Hand. Der kurze Monolog bricht abrupt ab. In die Stille drängen sich ein plötzliches Unbehagen, springende Assoziationen und ein alleingelassener Verständniswille. Dessen ungeachtet folgt ein anderer Bericht. Keine weiteren Bezugnahmen zu den Begebnissen oder Vorfällen dieses Tages dort im Bett. Das Geschehen wandert in die Köpfe des Publikums, wird hier zurückgelassen und die Struktur der sich abwechselnden Sprachfetzen, durchbrochen von manchmal längeren Pausen und den reduzierten Bewegungen der Darsteller, wird beibehalten. Nach und nach gesellen sich weitere Akteure hinzu, andere treten ab. Sie verflechten sich in eine linear verlaufende Kommunikation, die bald vermuten lässt, dass es sich bei den einzelnen Ausführungen weniger um einen vorbestimmten Erzählstrang als vielmehr um sich gegenseitig stimulierende Erinnerungsfetzen handelt. Sprachspiele könnte man das nennen. Das aber nicht in einem unterhaltenden Sinne, sondern vielmehr als Möglichkeit, direkter an die außertheatralische Realität und in diesem Falle parallel an die erinnerten Vergangenheiten heranzugelangen. Mit der Verlautbarung der kleinen Episoden stellt sich immer wieder die Frage nach den Gründen für ihr Hervorkommen. Diese werden auf struktureller Ebene jedoch offen gelegt und schaffen so eine doppelbödige Wahrnehmbarkeit.
So hören wir von einem verlassenen Haus, dessen Aufgangsstufe viel zu hoch ist, weil das umgebende Terrain von den Baggern noch nicht wieder aufgeschüttet wurde. Zu diesem führt ein Weg vorbei an einem alten Holzhaus auf der rechten und einem Wald auf der linken Seite. Wir hören von der einen verpassten Möglichkeit zum Kreis der bewunderten Mädchen zu gehören, die nicht genutzt wurde, weil es nicht so leicht war, zu sagen für wen das Herz schlägt. Wir hören vom Pergamonmuseum, dem staunenswert weiten Blick von dort und dem Kameraausschnitt, der plötzlich die Freundin einfängt, die selbst schon gar nicht mehr in der Lage ist, zurückzusehen und Blickkontakt aufzunehmen. Wir hören von Abenden beim Spiel mit der Autorennbahn und den sich in den kleinen braun-beigen Teppichschlingen verfangenden Rennwagen, die immer aus den Schienen herausschossen, weil die Geschwindigkeit in den Kurven oft zu hoch war. Wir hören von Mustern im Teppichboden, die als Nachweis des Staubsaugens dienen mussten und immer eine ganz bestimmte Form zu haben hatten. Wir hören von steinernen halbrunden Torbögen irgendwo im Ausland, von erzwungenen Schulständchen für das Wachpersonal im Museum, die ihre versteckt pädagogische Wirkung zielsicher verfehlten. Wir hören von prä-pubertären Jungengesprächen, von Begegnungen mit Heiner Goebbels, von der Idee für einen riesigen Holztisch als Bühne und von euphorischen Diskussionen am Telefon.
So war es doch, oder kreiere ich, im Nachhinein wenn ich sitze und schreibe, eine eigenständige Erinnerung aus alledem? Gehörte das Holzhaus nicht eigentlich zu einer anderen Erzählung? Und die Bagger, gab es die? Fand das Schulständchen wirklich im Museum statt oder war es in der Turnhalle, welche auch für Feierlichkeiten genutzt wurde? Ging es um „bewundernswerte“ Mädchen oder eben nur um entfernt befreundete? Und die Abende, wurden sie nicht vielleicht auch beim Spiel mit der Eisenbahn zu schönen Erinnerungen? Ganz gleich wessen Gedanken sich ausbreiten, welche Erinnerungen ich später erinnere und welche sich mit den eigenen vermischen, all diese Szenerien bekommen im Hier und Jetzt der Aufführung eine erstaunlich nahe gehende Präsenz. Eine, die die gewohnten Abläufe der Rezeption durcheinander bringt: Wie kommt es, dass ich mich gerade in dem Moment nach den konzeptionellen oder szenischen Mitteln frage, wo der Eindruck von so etwas wie Authentizität kaum mehr gesteigert werden kann? Das haltende Anlehnen, das sachte Streichen über die Unebenheiten des Putzes, das zurückhaltende Gestikulieren oder das Starren auf die Dübel in der Wand scheint mehr den Darstellenden zu dienen, bindet sie zurück in den faktischen Raum und erzeugt zugleich einen mal zerbrechlichen mal starren Übergangsbereich, an welchem über Interpretation, Genauigkeit, Mut und Angst verhandelt wird. Auseinandersetzungen, die auch in den Bemühungen um die richtigen Worte und im Sprachumgang offenkundig werden und jedem einzelnen der Darsteller eine fein unterscheidbare und persönliche Form des Gerichtetseins verleihen. Und so bestehen sie aus nicht mehr als kurzen Monologen. Wenn die Gedanken richtungslos wehen streicht man die Krümel der Erinnerungen, Entschuldigung, des unter dem Bodenbelag schlummernden Drecks von den Händen und überlässt sich weiter der getriebenen Stille, bis man zu einer fassbareren Schicht gelangt. Und daran entzündet sich beim Publikum die Frage: Was sehen und hören wir hier? Sind es unmittelbare Erinnerungen, wie man sie kennt, die unbedacht hinaus geschubst werden um eine neue Realität zu finden? Beschauen wir für und durch uns heraufbeschwörte Geschichten, die gefesselt und ans weiße Licht des künstlichen Raumes geschleppt werden? Oder erschöpfen sich diese Fragen in Nebensächlichkeiten und es kommt nicht darauf an, ob die fünf, oder waren es sechs, kleinen monochrom-graugrünen Fotos dort an der Wand nun überbelichtete Anstrengungen oder verblassende Geschehnisse sind?
Als ich an diesem Abend in Richtung der U-Bahn Station laufe, sehe ich am Straßenrand einen Lada 2401 Kombi. Ein Auto mit glatten knallroten Kunstledersitzen, mit dem großen schlanken Lenkrad aus mattem Kunststoff und mit den halbrunden in die Verkleidung eingelassenen glänzenden Türknöpfen. Den Wagen, mit dem meine Eltern, mein Bruder und ich in einer verlorenen Zeit in meinen ersten Urlaub fuhren.
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Aufführung als Zwischenstand
Kollektiv: Creutzburg / Lutz / Nebel / Pistorius / Reble / Willems
Sophiensaele Galerie Jarmuschek
22. Februar 2009, Berlin