Wir lernten uns auf einer polnischen Hochzeit kennen. Ich sah, wie sie während der Feierlichkeiten an der langen Tafel einen kleinen Block aus ihrer Tasche holte und begann irgendetwas hinein zu schreiben. Sie tat das mit einer Selbstverständlichkeit, die mir unglaublich gut gefiel.
Vorher begegneten wir uns im Treppenhaus. Sie war mit einer Freundin gekommen, die gerade ein Telefonat begonnen hatte. Sie ging also umher, schaute kurz in das Foyer des Festsaals und kam schließlich wieder nach draußen. Da war auch ich. Auch ich wartend, auch ich auf eine Freundin. Ich wartete damals gerne. Besonders, wenn ich wusste, dass ich deswegen nichts verpassen würde und am liebsten in Gesellschaft – obwohl die noch nicht ausgemacht war. Jedenfalls fiel sie mir schon dort auf. Zu behaupten, dass ich eine Schwäche für kurze dunkle Haare hatte, wäre untertrieben. Dazu kam ihr Stil, der sich zwischen einem eleganten Schwarz und einem beweglichem Hellblau wie selbstverständlich nahm. Ich hatte keine großen Chancen dem zu entgehen. In meinen Erinnerungen sind es aber immer auch ihr strahlendes Gesicht und die Stimme, mit der sie dann zu ihrer Freundin sprach. Ich wusste damals nicht, wie gut ich diese Stimme kennen lernen würde.
Bevor das Fest mit dem zugehörigen Wodka Fahrt aufnahm, sollten wir alle nach draußen kommen um das Brautpaar zu empfangen. Im Innenhof der Sophiensaele bildeten wir ein unendlich langes Hochzeitstor. Ich weiß nicht recht wie wir das angestellt haben, aber als man sich dafür die Hände reichen sollte, standen wir uns gegenüber. Ich denke, sie war an diesem Zufall nicht ganz unbeteiligt. Bald waren wir an der Reihe. Sie lief mit einem solchen Tempo durch die über uns anschwellende Welle aus Armen, dass ich mich förmlich von ihr mitgerissen fühlte. Wie auch heute noch, wenn es mir vorkommt, als ob wir dieses Rauschen nie verlassen hätten. Als wir wieder Platz nahmen saß sie wie vorher zwei Plätze neben mir. Wenn ich mich etwas zurück lehnte – was ich oft tat, um den altbekannten und erschreckend neunen Trinkspielen zu entgehen – konnte ich ihren weichen Nacken sehen. Ich hatte mich in diesen Anblick verloren und verstand in diesen Momenten, welche Anmut die alten Maler in ihren halbseitlichen Portraits dauerhaft machen wollten. Dass dies niemals gelingen würde, sollte ich erfahren. Jedoch nicht an diesem Abend. Nach dem dritten Spiel und der zweiten Tanzrunde stand schon der fünfte Wodka vor mir. Die sauren Gurken waren, zumindest für mich, keine willkommene Abwechslung. Für die sorgte mit großem Einsatz der Gastgeber und Quasialleinunterhalter in seinem samtig-weinrot glänzenden Anzug. Mit allerlei familiären Anekdoten, Einblicken in die polnische Musikgeschichte und einer Balletteinlage führte er souverän durch den Abend. Das Brautpaar bot einen Walzer dar und schwor sich auch ohne die offiziellen Insignien die ewige – wenn es nach den Wünschen des Schwiegerpapas gegangen wäre, die über den Tod hinausgehende – Liebe. Die Trinkspiele wurden substanziell und peinlicher. Da ließ sich der Hausherr nicht lumpen. Und wie es an solchen Abenden gang und gäbe ist, spiegeln sich in den blödesten Situationen die profundesten Wahrheiten: Wem hilft auch der fortwährend fließende Wodka nicht auf die Tanzbeine? Wer kann es gar nicht erwarten, ausdrucksstark am nächsten Spiel teilzunehmen? Wem wurde das alles zu bunt? Wer hat die besten Geschichten auf Lager? Und so weiter. Ich befand mich bei all diesen Erkenntnissen stets auf meiner Seite. Welche das auch immer sein sollte. Sie befand sich offensichtlich auf der ihren. Welche ich noch immer kennen lernen wollte. Bei den Tanzrunden hatte ich die Möglichkeit dazu verschenkt. Später tanzte ich im Foyer und sie saß daneben. Wir haben es geschafft unsere Gleichzeitigkeiten zu leben und trotzdem in ihnen verbunden zu bleiben.
…
Aufwachen – diese Geschichte gibt es nicht. Und das ist gar nicht pessimistisch gesprochen. Alles was ich erinnere ist geschehen. Aber nicht als Wirklichkeit und vor allem nicht als festlicher Wendepunkt einer Lebensgeschichte. Davon zumindest ist auszugehen, wenn man das Theater als Theater ernst nimmt, wenn man über die sicher diskussionswürdigen politischen und sozialen Dimensionen des Stückes sprechen wollte. Aber das kann ich nicht. Genauso, wie die Brautleute nicht ihre Spieltrunkenheit mit Einschalten des Bühnenlichtes ablegen können. Vielleicht ist dieses Theaterstück überhaupt kein Theaterstück. Vielleicht begreifen seine Macher den Titel konspirativer als man vermuten würde und haben sich erlaubt zu hoffen, dass sie ein Stück Wirklichkeit schaffen, welches das Publikum die längste Zeit begleiten wird. Dazu müsste man ihnen und uns gratulieren. Vielleicht war es ein wundervoller Teil meines Lebens. Wie sollte ich das jetzt besprechen? Wie könnte ich diese Erzählung jemals wieder hergeben? Der einzige Weg wäre wohl die Schilderung der Eindrücke, Gefühle und Gedanken, die mich bis jetzt begleiten. Wahrscheinlich müsste ich sie so formulieren, als würde ich eine bereits Jahre zurückliegende Geschichte erzählen.
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Bis dass der Tod uns scheidet
Mariamagdalena und Gäste
Sophiensaele Festsaal
19. März 2011, Berlin