Es lag nichts Romantisches in der Entscheidung allein ans Meer zu fahren. Auch handelte es sich nicht um das verwegene Vorhaben eines Einzelgängers. Es fehlte Ruiz dos Santos schlicht an Begleitung. Aus dieser nüchternen Einsicht sollte sich jedoch eine vielgestaltige und für ihn bedeutsame Geschichte entwickeln – eine Erzählung, die es nicht hätte geben können, hätte er gewusst, dass er nicht allein ist.
Als Ruiz am Bahnhof ankam wusste er, dass ein Fußweg von einigen Meilen vor ihm lag. Noch zu Hause und als erstes hatte er diesen gewählt und damit die Planung seines Ausfluges für beendet erklärt. Das Wiederanfahren seines Zuges vernahm er bereits aus einiger Entfernung. Er hetze geradezu los, wie er es immer tat, da er sich den Raum zwischen der Bahnstation und seinem Ziel mithilfe der Karte ausgemalt hatte und dieser nun nicht mehr sein konnte, als ein Hindernis, das es zu überwinden galt. Er wusste, dass er im Nordwesten des Städtchens bereits auf das Wasser des weiten Pazifiks stoßen würde. Er müsste die Küste zu seiner Rechten liegend entlang gehen bis zu einem schmalen Kanal, der ungefähr anderthalb Meilen weit ins Land reicht. Auf der anderen Seite dieses Wasserlaufs würden das Dorf und seine Unterkunft liegen. Diese Überzeugungen begleiteten den jungen Mann. Doch der Kanal blieb länger aus, als erwartet. Zuerst zweifelte Ruiz an seiner Orientierung, dann an seiner Erinnerung, dann an der Beschilderungen der Wege. Letztere waren zu dieser Jahreszeit wie leer gefegt. Zweifel an der Verfasstheit der Welt hegte er nie, wenngleich ihn seine eigenen Schritte etwas verwirrten. Denn die Wanderschuhe, die er zwar seit Jahren besaß aber nur selten trug, ließen seinen Gang staksiger und bewusster werden, als ihm lieb sein konnte. Als der Kanal schließlich in Sicht und der ihn umgebende Raum zur Wirklichkeit kam, veränderte sich etwas. Es fühlte sich nicht mehr an, als ob Ruiz sich überhaupt bewegen würde. Vielmehr drehte sich die Umgebung unter ihm weiter und brachte ihn auf diese Weise seinem Ziel näher, während er – in Anbetracht des Himmels über ihm – vollkommen stillstand. Als Ensemble aus einigen Häusern, verwachsenen Bäumen und einer schmalen, grob gepflasterten Straße, kam das Dorf schließlich bei ihm an. Im goldenen Türknauf eines flachen weißen Gartenzauns hinter dem gesetzte Frühjahrsblüher sprossen, erblickte er sich selbst. Dass seine Spiegelung auf dem Kopf stand, wunderte ihn nicht. Aus dem Augenwinkel meinte er jedoch eine zweite Gestalt erkennen zu können. Er blieb stehen, um sich in Richtung des Knaufes zu bücken. Von dort blickten ihn vier Augen an. Er wandte sich um, aber da war niemand. Als er wieder das goldene Fischauge in den Blick nahm, wurde ihm klar, dass er es war, der sich zweimal dort spiegelte. Aber keinesfalls als bloße Verdopplung. Denn während sein eigentliches Spiegelbild tat, was ein Spiegelbild tut – Original spielen – gefiel sich sein zweites Abbild darin, irgendwelchen Unsinn zu veranstalten. Es schien, als wolle es sich einen Spaß erlauben, ohne damit auch nur irgendein erkennbares Ziel zu verfolgen. Bald fand Ruiz Freude an dem Geschehen und die drei schauten sich zwischen Seidelbast und Pflastersteinen eine Weile lang gegenseitig zu. Die darin als zweifelhafter Konsens verwickelte schmale Straße sollte wenig später nicht mehr auffindbar und die Jahrhunderte, in denen sie die Salzversorgung des Gebietes sicherstellte, beendet sein. In diesen Minuten brach allerdings gerade erst der Nachmittag an. Trotzdem fühlte sich Ruiz, als sei es schon zu spät noch irgendeine Unternehmung anzugehen. Er schlief in dieser am frühen Abend beginnenden Nacht nicht ruhig und nicht schlecht.
Der nächste Tag begann mit einer warmen Dusche, dem reichlichen Frühstück und einer merkwürdig erholsamen Busfahrt. Sein Geschehen erwachte jedoch erst, als Ruiz entschied, eine schlammige Weggabelung zu nutzen, um die abseitigen Bereiche dieses küstennahen Wallfahrtsortes zu erkunden. Seine nun weicheren Schritte – das Dorf öffnete sich leicht zur Natur hin – wurden zu seiner Linken bald von einigen Alpakas begutachtet. Ruiz befand sich in einer ungewissen Erwartungshaltung wegen des noch nicht feststehenden weiteren Wegverlaufs. Auch die Landschaft hatte sich noch nicht entschieden, welche Form sie hier annehmen sollte. So schenkte er den Alpakas seinerseits keine Beachtung – bis ihm eines zunickte. Reflexartig drehte er sich um. Aber auch diesmal war niemand in seiner Nähe. Wem nickte dieser dreiste Langhals also zu? Sein nach Indizien suchender Blick nahm nun die gesamte Herde in Augenschein. Auf ihrer bescheidenen Wiese standen die Alpakas, als wären sie gerade aus dem Würfelbecher gefallen. Es gab acht von ihnen, vier weiße und vier schwarze. Aus Ruiz’ Perspektive schien es, als stünden sie gemischt. Aber als er sich ihre Positionen im Raum verdeutlichte, bemerkte er, dass alle weißen Tiere hinten links und die schwarzen vorne rechts verharrten. Alle schauten, keins bewegte sich. Nur das eine schwarze Alpaka, das – so musste Ruiz nun annehmen – ihm zugenickt hatte, unterschied sich durch einen etwas offeneren und verwirrend wissenden Gesichtsausdruck. Diesen wollte er sich einprägen und wenn er wieder in seiner Unterkunft war, vor dem dreigliedrigen Spiegel im Bad üben. Bei diesem Gedanken erinnerte sich Ruiz an einen flüchtigen Moment beim Zähneputzen. Als er den Blick von seinem morgendlichen Blick abwendete, bemerkte er im Waschbecken des kleinen Bades einen sich erhebenden, sanft geschwungenen Wasserwall. Er hielt sich nur wenige Sekunden und war dann wieder verschwunden. Aber bis dahin hatte er eine Höhe von zwei bis drei Zoll erreicht, was Ruiz unerklärt fröhlich stimmte. Ähnlich wie es jetzt der sich um ihn entfaltende Geruch aus bewegter Erde und zurückhaltender Seeluft tat. Ohne weiter über diese Laune des Wassers nachzudenken, ging er voran und ergänzte wenige Sekunden später eine noch in Verschränkung befindliche Formation aus dem letzten Haus mit Strohdach, einer sich ausbreitenden Ebene in Richtung des Wassers zur Rechten, der leicht ansteigenden Hügellandschaft zur Linken und den dahinter beginnenden dunklen Waldlinien. Die Dinge suchten an diesem Tag nach Ablehnung statt Zustimmung provozieren zu wollen. So kam es zu der Entscheidung, dass Ruiz sich weder zurück ins Innere des Ortes, noch hinaus entgegen des Meeres bewegte. Er nahm einen kaum erkennbaren Pfad über eine Wiese in Richtung eines erhöhten mit Seilverankerungen gehaltenen Antennenturms. Sein Blick jedoch schweifte immer wieder hinüber zu den kaum hörbaren Wellenschlägen des Wassers. Von dort vernahm er unvermittelt ein in dieser Relation viel zu intensives Krächzen. Da Ruiz als Südamerikaner ein großer Fan der Französischen Revolution war, erkannte er die Rufe sofort. Es waren die der Bonapartemöwe. Dem kik-kik-kiah-kriiähhhr fehlten allerdings die Absender. Wo waren die schwarzen Köpfe mit den leuchtend orangeroten Schnabelinnenseiten und die blaugrauen, manchmal sogar pinkfarbenen Kleider der Möwen? So sehr sich Ruiz auch bemühte, sie zu erspähen – auf der eingeebneten Küstenwiese waren sie nicht ausfindig zu machen. Es war, als hätte sich das physische Volumen der Vögel vollkommen in den Klang ihrer geselligen Stimmen aufgelöst und diesen damit um ein Hundertfaches verstärkt. Ähnlich muss es wohl in den Freiheitskämpfen der beginnenden Revolution gewesen sein, dachte sich Ruiz und ärgerte sich noch immer ein wenig, dass diese wunderbaren Tiere schließlich nur nach dem Naturwissenschaftler Charles Lucien Bonaparte benannt worden waren, anstatt ihnen etwas des Glanzes seines großen Onkels mit auf den Weg über die Meere und durch die Geschichte zu geben. Versöhnlich jedoch stimmte ihn die abschweifende Vorstellung der monogamen Saisonehe, welche sich die gemeine Bonapartemöwe zu praktizieren erlaubt. In seinen Schritten und Phantasien verloren, bemerkte Ruiz die unzähligen um und in ihm auftauchenden Erdlöcher zuerst überhaupt nicht. Dann begriff er nicht, was das sollte. Er fühlte sich sowieso von den Hügeln, Gräsern, Gerüchen und Geräuschen durchdrungen und sah nicht, wohin das nun führen könnte. Zudem hatte er keine Lust, sich an Spekulationen zu beteiligen.
Nachdem er die kleine Anhöhe überwunden hatte, war auch der Pfad verschwunden, dessen Verlauf er bis dahin gefolgt war. Auch unten am Waldrand konnte er keinen Weg entdecken. Trotzdem ging er in Richtung der Schilfgräser, die diesen säumten. Als er schon fast an ihnen vorüber gegangen war, drehte er sich um und nahm die Form des Schilfs in sich auf. Alle Konzentration lag in diesem Augenblick in ihm. Er war nicht herausgefordert, nicht angesprochen, nicht einmal wahrgenommen worden. Nur die ablehnende Haltung der Dinge dieses Tages war wieder spürbar. Aber Ruiz hatte durchaus einen zu Bestimmtheit neigenden Charakter und fühlte sich nicht angewiesen auf die Stimme der Natur oder dergleichen mythischen Ramsch. Seine Anwesenheit erschuf die Welt zwar nicht, aber sie ließ sie zur Geltung kommen und nahm im Ausgleich dafür Veränderung in Kauf. So ging das immer hin und her. Wie an diesem Ort mit den Schilfstängeln. Diese waren auf merkwürdige Weise gebogen. Keine einfache Biegung in Richtung des Windes, wie man hätte annehmen können, sondern eine doppelte Krümmung, an deren Ende die vollen Ährchen mit ihren langen weichen Haaren ansetzten. In der sommerlichen Blütezeit würden sich diese in Schirmchenflieger verwandeln und vom Wind davongetragen ihren Fortbestand sichern. Ruiz wusste, dass er diesen Anblick nur vervollständigen konnte, wenn er das Schilfrohr berührte und die schwache Energie seiner Bewegungen in sich ankommen ließ. Er trat näher und griff sich den erstbesten Halm. Die ein unbekanntes Volumen andeutende Krümmung veranlasste Ruiz diesen wie einen Kontrabass zu halten. Wobei er dieses Gerät nur von Abbildungen aus französischen Lehrbüchern kannte. Mit der linken Hand zog er ihn zu sich heran. Die andere Hand legte sich ohne geschlossen zu sein um das obere Ende des Halmes und führte ihn an sein rechtes Ohr. So verweilte er einige Sekunden. Aus der Entfernung hätte der Mann, der das Schilf hält sicher ein merkwürdiges Bild abgegeben. Aber diese Perspektive wurde an diesem Tag aus der Ordnung der Dinge gelöscht. Es gab dieses Außenstehen nicht mehr. Es gab nur noch die Teilhabe an einer insgesamt teilnahmslos wirkenden Welt – ihre Veränderung floss durch seinen Körper und seine Bewegungen hallten in ihrem Inneren wieder. Als Ruiz in diesem gegenseitigen Einnehmen wieder zu sich finden wollte, löste sich ein Teil der Blatthülle und blieb zwischen seinen trockenen Fingern zurück. Er rollte das längliche, graugelbe Blatt vorsichtig auf, während er sich von den Schilfgräsern abwendete und in Richtung des Ortes orientierte. In einer kaum lesbaren Schrift stand dort geschrieben: „Es wird nichts ändern.“ Ruiz hielt das dürre Blatt noch in seinen Händen, als er wieder zwischen den Häusern ankam. An alles was dann geschah, sollte er sich nie erinnern können.
Ein Strohdach zog sich über seinen Mauern zu einer gewaltigen Kugelform zusammen, bevor es noch einmal alle Feuchtigkeit aus sich heraus schüttelte. Ein Mann mit einem aufgenähten Stoffherz auf seiner dreckigen Holzfällerjacke beendete sein Wettern gegen den Zustand der Schlammfallen – die Schlacke würde nun nicht mehr den Leichtsinn aufbringen, in diese zu tappen. Zum letzten Mal saß das Mädchen am alten Hafen und sprach mit den Schwänen, die nur ihretwegen stundenlang über dem Wasser flogen. Ruiz atmete, in bereits versöhnter Sehnsucht, noch einmal dieselbe Luft wie seine Freunde und Bekannten in der anderen Hälfte des Landes. In den letzten, fast fremd wirkenden Atemzügen fragte er sich, warum er die Steine, die er an der Küste gesammelt hatte, jedes Mal wieder zurück in den Ozean warf. Er schaute der sich vor ihm erhebenden Wasserwand entgegen und war sich der Antwort bewusst. Sollte er sich auch in eine verrückte Spiegelung oder eine übers Land wehende Stimme einfinden, nichts würde ihn von dieser Welt trennen können. Videokameras hielten noch die scheinbar unveränderlichen Straßen und Gebäude fest, bevor sie für immer zur Verhandlungssache wurden. Ruiz dos Santos hielten sie nicht. Das Wasser holte ihn zu sich und den anderen.
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13. März 2011, Ahrenshoop