Hommage an das Zaudern

Zu früh im Foyer der Sophiensaele ankommend, ist mein erster Eindruck, dass die Renovierung dem Raum nicht unbedingt gut getan hat. Er ist klarer, heller und vielleicht funktionaler geworden. Seine halbdunkle, körperliche Vorraumatmosphäre ist verschwunden.

Es ist nicht so, dass sich das zugehörige Gefühl des Gestimmtwerdens nicht mehr ausmachen ließe. Doch die dieser Empfindung eigene Unmittelbarkeit ist verloren gegangen. Da ich aber nicht gekommen bin, um mich mit meiner Perzeption zu beschäftigen und weil ich eine unter Umständen neugierige Begleitung erwarte, blättere ich im Programmblatt. Ich fange hinten an. Auf drei von sechs Seiten werden die Beteiligten vorgestellt. Ich frage mich, wie viele Jahre Arbeit in einer Zeile Werdegang stecken. Oder sind die Zeilen schlicht der zum Artefakt gewordene Stein der Weisen? Das geologische Ungleichgewicht pendelt jedenfalls zwischen fünfzehn und neuneinhalb – ungefähr das Verhältnis zwischen Nordafrikaner und Südkoreaner. Während im Mittelteil des Faltblattes von der prekären Existenz des Zauderns und einer Ethik der Pluralität gesprochen wird, findet sich auf der ersten Seite des Programmheftes schließlich eine Textpassage von Jean-Luc Nancy, der das Geschehen auf der Bühne in doppelt gebrochenen Dichotomien zu theoretisieren weiß.

Das Stück selbst beginnt zynisch. Die Tänzer ziehen ihre Bahnen. Da ist das Tippeln, da das Drehen, da der angedeutete große Sprung. Sie alle enden in Resignation und Kraftlosigkeit. Die beiden Männer brechen wunderbar in sich selbst ein. Man vernimmt einiges Schmunzeln in den Reihen des Publikums und fragt sich: Ist das der Moment der Absage, der Verneinung und gleichzeitig das Versprechen und die Hoffnung auf einen neuen Tanz? Die beiden Körper nähern sich nach und nach an. Sie wechseln von einer Gleichzeitigkeit in eine andere. Sie beginnen sich aufeinander zu beziehen, geben Impulse aus, reagieren im Wechsel. Aber es scheint keinen Ausgangspunkt dafür zu geben. Plötzlich sind die Tänzer ganz bei sich, ganz ernst und konzentriert. Woher dieser Neuanfang? Ist es die Einkehr ins Individuelle, die Abkehr vom Tanz als Gesellschaft produzierendes Phänomen? Es kommt einem vor, als verfolge man materiegewordene Gedanken, deren Bewegungen so ziellos im Raum mäandern wie es bezuglose Eindrücke in unserer Wahrnehmung tun. Man weiß nicht, was sie hervorgerufen hat und wann sie wieder verschwinden werden. Ähnlich dürfte es zu diesem Zeitpunkt einem Großteil des Publikums gehen. Die Bewegungen der Tänzer wiederholen sich; auch im Vergleich zu früheren Stücken Laurent Chétouanes. Man wird mit einem wiederkehrenden Set an choreografischen Möglichkeiten konfrontiert. Die Frage nach den durch sie zu öffnenden Räumen bleibt allerdings unbeantwortet. Die Bewegungen sind in einer fast technischen Art minimal, meist gerichtet, oft kausal korreliert und manchmal widerläufig. Das lässt sich bis zu einem gewissen Punkt gut ansehen, doch irgendwann drängt sich die Frage auf, warum man als Zuschauer dafür benötigt wird. Wenn dies die im Programmheft beschriebene Befragung der „Ökonomie des Tanzes“ ist, dann scheint das Publikum in dieser Gleichung ersatzlos gestrichen. Damit wäre die Reduzierung des Tanzes freilich bis zum äußersten Punkt vorangetrieben: Die Tanzenden implodieren in einer einzigen gedanklichen Figur und das Publikum wird als unbrauchbare Entität ignoriert. Inwiefern dies zur Bildung der erhofften Komplexität und Vielfalt theatraler Situationen beitragen kann, bleibt fraglich. Es scheint, als versuche das Stück dem Zustand der „totalen Ökonomisierung“ in einer Logik der Negation zu begegnen, die auf dieselbe Weise ausschließlich, wie eine marktwirtschaftliche Logik inkorporierend wirkt. Aber es ist nicht allein die Fremdheit des Bühnengeschehens zum Publikum. Auch die Darsteller bleiben sich selbst immer fremd, immer abwesend. Sie sind Gelenkte ohne Willen. Wobei dies in den Begriffen des Stückes folgerichtig ist. Denn wenn sie als die Verkörperung des Willens oder der Unentschlossenheit selbst agieren, können sie nicht willensbestimmt sein. Dann aber ist auch ihr Zaudern kein Zaudern. Denn das Zaudern braucht Pole zwischen denen es pendelt. Im richtungslosen Zaudern kulminiert allein die Verweigerung. Für wen tanzen die beiden Figuren, wenn nicht für sich selbst, wenn nicht für ein Publikum. Tanzen sie für Laurent Chétouane oder für Jean-Luc Nancy?

Als den Tanzenden in der zweiten Hälfte des Stückes gerade das Klavier und die kleinen Erzählungen hinzueilen, verlässt eine Frau den Saal. Das Bühnengeschehen ist zu diesem Zeitpunkt so zurückgenommen, dass ihr Gehen wie die Unterbrechung des Stückes durch den unzufriedenen Choreografen wirkt. Joris Camelin richtet den Blick auf sie. Man kann seine innerliche Befragung der Situation in einer unendlich gedehnten Sekunde förmlich herunterzählen. Er entscheidet sich unverändert fortzufahren. Da war Zögern, da war Zaudern. Es sollte jedoch das einzige dieses Abends bleiben. Wenn Rémy Héritiers Sprache später stolpert, wenn seine Geschichten auf Unentschlossenheit hinauslaufen, wenn es den bekannten, langen Blick ins Publikum gibt, wenn Jan Burkhardts Piano im richtigen Moment einsetzt und wenn sich die beiden Männer wie zwei sich gegenseitig anschiebende Kreisel über die Bühne bewegen, dann sind das funktionierende Bilder. Aber sie ergeben keine Gesamtheit, kein Gefühl. Sie sind klar, hell und vielleicht funktional, aber ihre Körperlichkeit ist immer mittelbar und oft verschlossen. Die Ausnahme bildet eine Szene – sei sie auch pathetisch – die uns gegen Ende des Stückes wieder das Eingangsmotiv vor Augen führt. Ohne die komödiantischen Tanzgesten stehen die beiden Männer nebeneinander und brechen abwechselnd in sich ein. Bei unerwartet hoher Intensität wird das Zuschauen zur Qual, weil sich ein Gefühl aufdrängt: Diese Körper sind scheiternde Körper. Sie haben keinen Weg gefunden, den zynischen Kommentar in eine kompositorische Aussage umzuwandeln.

Ein Trailer zum Stück vom TanzForumBerlin sowie die Texte, auf die sich die Besprechung bezieht finden sich hier.

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Hommage an das Zaudern
Laurent Chétouane
Sophiensaele Festsaal
10. Februar 2012, Berlin