Die kleine Schau im Privatraum des Künstlers ist als Rundgang angelegt. In der Raummitte befindet sich die Installation »Hier steht meine Schwester«. An die kaum zwei Meter entfernten Wände des Raumes sind die Arbeiten »Ehebett mit F«, »Transparentfisch« sowie ein gewaltiger flächiger Betonportikus angebracht. Dieser steht gegenüber der vierten Wand, die den Zugang zur Ausstellung bildet – eine Fensterfront mit dahinter liegendem Balkon im dritten Stock.
Spricht man mit Jakob Schmitt, bekommt man kryptische O-Töne und Betrachtungen zu einer Ökologie Dritter, Einblicke in genetische Erbreihen oder Assoziationsschübe zu Rennprothesen. Diese sollte man nur so ernst nehmen wie den sichtbaren Darmtrakt des wenig filigranen Transparentfisches. Gefügt aus massiven Holzbalken ist der Seebewohner mit einem fabrikneu verpackten Mikrophon und den zugehörigen Lautsprechern an seiner hinteren Körperöffnung ausgerüstet. Darüber zu diskutieren, fühlt sich abwegig an. Beneidenswerte Literaten! Sie erzählen von Beginn an. Niemand würde auf die Idee kommen, sie zu nötigen, ihre Werke zu erklären. Wobei von Nötigung eigentlich keine Rede sein kann. Denn die Worte des Künstlers kommen so direkt über seine Lippen, dass man nicht weiß, welcher Form des Sprechens man sich gegenüber sieht. Ist es eine unterhaltende, eine ernsthafte, gar eine herausfordernde? In solcher Unsicherheit und in Anbetracht des vielleicht etwas staubigen eigenen Gedankenrepertoires, lässt man das Gespräch schon mal in Nachdenklichkeit versiegen. Wobei dies sicher nicht die Absicht des Künstlers ist. Denn dafür gibt es in seinen Reaktionen zu wenig erkenntnisschwangeren Zynismus, zu wenig appellierende Ernsthaftigkeit, zu wenig devotes Verstandenseinwollen, zu wenig kunstgeschichtlichen Schöpferdrang. Kurzum, es gibt zu wenig von dem, was man der Kunst gern ersparen würde.
Demgegenüber gibt es eine Fülle an manchmal verstörend wirkenden Anhaltspunkten. So scheinen die Rippen oder Pobacken der dort stehenden Schwester – wenn sie es denn wäre – gewaltsam als Volumen aus der sonst zweidimensionalen Frau geklappt zu sein. Diese zwanghaft wirkende Zuweisung von Sexualmerkmalen wird in gegenüberliegender Richtung durch zwei im Raum hängende hodenförmige Gebilde fortgeführt. Sie werden von kleinen schwarzen Blattklammern gehalten. Gerade als ob die Explikation, zumal im Privaten, immer mit einer Form der Peinigung einherginge. Man muss kein Detektiv sein, um auch das »Ehebett mit F« als Zeichen eines Interesses an Fragen des Geschlechterlebens zu lesen. Während das Dasein im Menschlichen angestrengt in die Vieldimensionalität gepresst werden muss, zieht sich das Gegenständliche in die Fläche zurück. Das Bett ist an der gesamten Zimmerwand entlang bis auf den Balkon reichend aufgeklappt. Hinzu kommt, dass es ein Kopfende zu viel gibt. Das schließt nicht nur die Rückwandlung in ein Sicherheit, Intimität und Zweisamkeit ermöglichendes Möbel praktisch aus, sondern wirkt wie ein immer wieder stolperndes Bemühen der dinglichen Welt. Dieses Stolpern lässt sich auch gegenüber dem in seinen Proportionen entstellten Betonportikus empfinden. In seiner Schwere und Massigkeit erinnert er an römische Stadttore, scheint aber einen Raum zu schützen, in den man längst eingedrungen ist. Woher also kommt dieses Stolpern? Wenn die Dinge um uns ihren Halt verlieren, müssen wir fragen, woran wir uns erkennen sollen. Woran sollen wir die Kunst erkennen? In Anlehnung an das Bauhaus-Manifest von Walter Gropius behauptet Schmitt: „Alle Kunst erprobt sich am Bau!“ Im Pamphlet der modernen Gestaltungselite aus dem Jahr 1919 hieß das noch: „Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau!“ Gemeint war ein erweitertes Verständnis der gebauten Umwelt im Sinne einer gesamtheitlichen Betrachtung und Gestaltung. Man wandte sich gegen eine dekorative Salonkunst um dem Kanon der Dinge zu neuem Klang zu verhelfen.
Seither ist manches Manifest zur Mahnschrift geworden. Dennoch wird sich eine Architekturgewandte Kunst mit deren Moderne auseinandersetzen müssen. Wie kann sich die zeitgenössische Kunst also an der vielgliedrigen Gesamtheit der architektonischen Welt, ihren Traditionen und Verständnissen erproben? In Gegenüberstellung der beiden Aussagen wird eines deutlich: Die performative Unbestimmtheit des Wortes „erprobt“ steht in Kontrast zur Annahme eines endgültigen Zieles. In dieser Differenzierung spiegelt sich die nicht-moderne Erkenntnis, dass einer Wirkung nicht unbedingt eine eindeutige Ursache vorausgehen muss. Kunst steht damit im räumlichsten Sinne des Wortes zur Disposition. Wir können weder eine spezifische Position noch eine signifikante Entwicklungslinie für sie ausfindig machen. Sie muss aus der Situation heraus wirksam werden und sich an ihren Objekten – oder sagen wir besser Dingen – abarbeiten. In unserem Fall an einem Gebäude in der Sonnenallee. Auf dem Bürgersteig vor diesem parkt eine Hebebühne, die überhaupt erst den Zugang zur Ausstellung ermöglicht: Man lässt sich in den dritten Stock hieven, wo man – nicht ohne Sorge des Künstlers – über den Balkon in den Ausstellungsraum einsteigt. Das Motiv des bewusst verschobenen Zugangs zur Schau drängt sich zwar auf, wird glücklicher Weise aber nicht als didaktischer Ausgangspunkt verstanden. Die rote Hebebühne ist vielmehr die explizite Übersetzung des künstlerischen Auftrags, die Architektur in ihrer Vielschichtigkeit zu ermessen. Sie erprobt sich in ihrem Gebrauch nicht nur an der Gangbarkeit der Treppe im Haus, an den Qualitäten des Balkons am Haus und am Blick durchs Fenster aus dem Haus. In ihrem Dasein erprobt sie sich an der Gesamtheit des Gebäudes. Denn sie nutzt es nicht. Sie befindet sich gleichberechtigt und ohne einnehmende Geste neben diesem. Sie fordert den Bau heraus, doch nicht indem sie ihn thematisiert. Sie tut es, indem sie als Behauptung neben ihm steht und ungefragt einige seiner Funktionen übernimmt. Dass man die sich langsam himmelwärts faltende Hebebühne inklusive der notwendigen Absperrungen auch als dienlichen Showeffekt abtun kann, macht ihr Vorhandensein nur bemerkenswerter. Indem man sie nämlich als Transportmittel begreift, wird auch sie zum stolpernden Ding: Sie erleichtert den Weg in die Wohnung, behindert aber die Passanten auf dem Bürgersteig; ihr wird kein künstlerischer Mehrwert zugewiesen, trotzdem sprengen ihre Mietkosten den Rahmen der kleinen Ausstellung.
So wie sich die Treppe und der Fahrstuhl in der Baukunst schon immer als reizvolle Hybridformen zwischen Funktion und Ästhetik darstellen lassen, so eröffnet der erweiterte Bezug zu architektonischen Überlegungen unerwartete Betrachtungsweisen und Fragestellungen. Der Portikus ist schon immer der schöngeistige Gang ins Nirgendwo. Warum wird er hier aufgegriffen und welches Nirgendwo ist adressiert? Die gefaltete Fläche ist schon immer der Ausgangspunkt aller räumlichen Überlegungen. Aber welche Bedeutung hat das menschliche Verlangen dabei und wie wirkt dieses in unsere Räume? Indem die Ausstellung und die Aussagen des Künstlers solche Bezüge herstellbar machen, thematisieren sie auch ein grundlegendes Problemfeld der Architektur – ihre Bestimmtheit. Die Dinge und nicht selten ganze Häuser stolpern, weil sich ihr Gebrauch nicht mit dem Programm deckt, das ihnen zugeschrieben wird. Sie sind zwar wirksam aber nicht funktionell im Sinne ihrer Gestalter. Ein Großteil architektonischer Ambitionen läuft nun aber darauf hinaus, eben dieses Stolpern – den Missbrauch – zu vermeiden, anstatt ihn als relevanten Teil räumlicher Produktion anzuerkennen. Auch wenn die Reflektion sozialräumlicher Phänomene nicht den Kern der geforderten künstlerischen Verortung im architektonischen Maßstab trifft, lässt sie sich hier nicht ausblenden. Die Installationen dieser Schau beweisen das. Denn sie erproben sich auf doppeltem Wege an der Architektur. Sowohl in ihrem bloßen Dasein als auch in ihrem unbestimmten Gebrauch stellen sie simultane Behauptungen auf und führen uns so an die Verständnisränder zeitgenössischer Kunst- und Architekturproduktion.
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Kneippstock
Jakob Schmitt
07. März 2011, Berlin
